* 28 *

28. Hermetisch versiegelt

 

Beetle

Während Rose draußen an den dunklen Fenstern des Manuskriptoriums vorbeirannte, versuchte Marcia drinnen, Merrin einen Fesselzauber um die Handgelenke zu legen.

Merrin wehrte sich nach Kräften, und Marcia war entsetzt, wie mächtig er geworden war. Sie hatte ihn mit dem stärksten Haltezauber belegt, den sie auf ihn anwenden konnte, ohne ihn in Gefahr zu bringen, und dennoch war sein Widerstand noch nicht ganz gebrochen. Merrins dunkle Augen sprühten vor Wut, und seine Füße zuckten bei dem Versuch, nach ihr zu treten. Das Gold an dem Ring mit dem Doppelgesicht blitzte, als er die Handgelenke verdrehte und die Fessel fast bis zum Zerreißen spannte. Nachdem Marcia von ihm mit unflätigen Beschimpfungen überschüttet worden war, hatte sie ihn zusätzlich mit einem Stummzauber belegt, aber das hielt ihn nicht davon ab, die Lippen zu bewegen. Marcia bedauerte in diesem Augenblick, dass sie eine gute Lippenleserin war.

Plötzlich klopfte es laut an die Außentür. Marcia blickte ärgerlich auf. »Beetle, sehen Sie nach, wer es ist, und sagen Sie ihm, er soll verschwinden.«

Beetle ging in den Kundenraum. Er öffnete die Tür, und draußen stand Marcellus Pye.

»Ah, Schreiber Beetle.« Marcellus klang erleichtert. »Ich bin froh, dass Sie es sind.«

Beetle hatte es längst aufgegeben, Marcellus Pye zu erklären, dass er kein Schreiber im Manuskriptorium mehr war und genau genommen auch nie einer gewesen war.

»Entschuldigen Sie, Mr. Pye, aber wir sind im Moment ziemlich beschäftigt«, sagte er und wollte die Tür wieder schließen.

Marcellus stellte einen Fuß in die Tür. »Ich wollte gerade zu dem Fest im Palast, musste aber feststellen, dass ein Sicherheitsvorhang errichtet worden ist.« Er klang besorgt. »Mein Lehrling, Septimus Heap, wollte in den Palast, und jetzt bin ich in Sorge um ihn. Ich dachte, ich frage einmal nach, ob er zufällig hier ist.«

»Nein, bedaure. Ich habe ihn nicht gesehen, und bevor Sie fragen: Nein, ich weiß nicht, wo er steckt.« Beetle klang gereizt. Er war es leid, ständig nach Septimus gefragt zu werden. »Verzeihen Sie, Mr. Pye, aber hätten Sie jetzt die Güte zu gehen? Wir haben zu tun. Würden Sie bitte Ihren Fuß da wegnehmen?«

Doch Marcellus reagierte nicht – etwas am Ende der Zaubererallee hatte seine Aufmerksamkeit erregt. Beetle nutzte die Gelegenheit, die Tür zu schließen. Er musste sich fest dagegenstemmen, und als er den Schlüssel umdrehte, sah er, dass Marcellus draußen ein merkwürdiges Tänzchen vollführte.

Er beschloss, ihn zu ignorieren.

Marcellus hämmerte gegen die Tür.

Marcia kam, Merrin an der Handfessel führend, in den Kundenraum. Jillie Djinn folgte ihnen wie eine Schlafwandlerin.

»Beetle, was geht hier vor?«, fragte Marcia.

»Marcellus ist draußen«, antwortete Beetle. »Er will nicht gehen. Er sucht Septimus.«

Ein Ausdruck von Besorgnis huschte über Marcias Gesicht. »Aber ich dachte, Septimus wäre bei ihm.«

»Offensichtlich nicht«, erwiderte Beetle etwas säuerlich.

»Was ist das da in der Tür?«, fragte Marcia. Ein langes und dünnes Stück rotes Leder ragte zwischen Tür und Türpfosten hervor.

»Auweia, das ist sein Schuh«, sagte Beetle und schloss wieder auf. Die Tür flog auf und gab den Blick frei auf einen gereizten Marcellus Pye, der die zerquetschte Spitze seines geliebten Schuhs betastete – Septimus hatte ihm das Paar vor ein paar Jahren zum Geburtstag geschenkt.

»Sehen Sie sich das an«, jammerte er. »Er ist ruiniert.« Er deutete auf die zerfetzten Bänder, mit denen der Schuh normalerweise knapp unter dem Knie festgebunden wurde.

»So albernes Schuhwerk trägt man auch nicht«, fauchte Marcia.

»Das müssen ausgerechnet Sie sagen!«, gab Marcellus zurück.

Während Marcia und Marcellus stritten, erregte etwas ganz anderes Beetles Aufmerksamkeit – die beiden Fackeln, die am Palasttor gebrannt hatten, waren soeben erloschen. Das gab ihm zu denken. Warum waren beide Fackeln gleichzeitig ausgegangen? Die Antwort ließ nicht lange auf sich warten.

»Nein ... das gibt’s doch nicht!«, stieß er hervor.

»Was ist denn?«, fragte Marcia, mitten in einer Beleidigung zum Thema Schuhe innehaltend.

Beetle deutete die Zaubererallee hinunter. Wie Wasser durch ein Schleusentor strömte dichter schwarzer Nebel aus dem Palasttor und wälzte sich auf die Zaubererallee. »Der Sicherheitsvorhang! Sie haben ihn durchbrochen!«

»Was?«

Merrin grinste.

»Marcellus«, sagte Marcia. »Machen Sie sich zur Abwechslung mal nützlich. Halten Sie diesen ... diesen Wicht für mich fest. Ich muss nachsehen, was da los ist.« Sie übergab Merrin dem Alchimisten und stürzte auf die Zaubererallee hinaus. Sie kam gerade rechtzeitig, um zu sehen, wie die erste Fackel an der Allee in einer Art schwarzer Nebelwand verschwand.

Marcia rannte zurück in den Kundenraum, schlug die Tür hinter sich zu und lehnte sich dagegen, im Gesicht so weiß wie ein Bogen Manuskriptoriumpapier. »Sie haben recht. Er ist durchbrochen worden.« Und dann stieß sie einen Fluch aus. Beetle war schockiert.

Merrin gelang trotz des Stummzaubers ein Kichern.

Marcia funkelte ihn an. »Dir wird das Lachen bald vergehen, Merrin Meredith. Dann nämlich, wenn wir die Scheibe mit den paarigen Geheimformeln aus dir herausholen.«

Merrin erbleichte. Daran hatte er gar nicht gedacht.

»Bringen Sie ihn hier raus, Marcellus«, sagte Marcia. »Beetle, Sie nehmen Miss Djinn. Wir müssen schleunigst zum Zaubererturm.«

Beetle zögerte. »Aber wir können das Manuskriptorium doch nicht im Stich lassen«, wandte er ein.

»Dieses Risiko müssen wir eingehen.«

Beetle war entsetzt. »Nein! Wenn das Dunkelfeld hier eindringt, wird alles zerstört. Die gesamte Geheimmagie in der Hermetischen Kammer und in der alten Alchimiekammer wäre verloren. Nichts würde übrig bleiben. Nichts!«

»Ich bin untröstlich, aber wir können es nicht verhindern.«

»Doch«, widersprach Beetle. »Die Hermetische Kammer kann hermetisch versiegelt werden. Deshalb heißt sie ja so. Und die Außergewöhnliche Zauberin kann sie versiegeln. Das stimmt doch, oder?«

Marcia antwortete nur mit großem Widerwillen. »Ja, allerdings. Aber die Kammer mit Miss Djinn darin zu versiegeln käme einem Mord gleich. Sie würde nicht wissen, was mit ihr geschieht. Sie hätte keine Chance.«

»Aber ich«, sagte Beetle ruhig.

»Sie?«

»Ja. Versiegeln Sie mich in der Hermetischen Kammer. Ich werde sie bewachen.«

Marcia wurde sehr ernst. »Beetle, die Luft in der Kammer reicht nur für vierundzwanzig Stunden, danach muss die Versiegelung aufgehoben werden. Sie wissen, dass nicht alle, die bisher in der Kammer versiegelt wurden, überlebt haben?«

»Dieses Risiko gehe ich ein. Meine Chancen stehen eins zu eins. Das ist nicht schlecht.«

Marcia schüttelte verwundert den Kopf. Wie so oft wusste Beetle viel besser Bescheid, als sie erwartet hatte. »Drei haben überlebt«, murmelte sie, »drei sind umgekommen. Das sind keine rosigen Aussichten.«

»Sie könnten schlimmer sein. Bitte, Marcia, ich möchte nicht, dass das Manuskriptorium verloren geht. Ich würde alles tun, um das zu verhindern. Alles.«

Marcia spürte, dass er sich nicht umstimmen ließ. »Also gut, Sie sollen Ihren Willen haben. Ich werde das Hermetische Siegel aktivieren.«

Während Marcellus Merrin festhielt und Jillie Djinn weitere Löcher in die Luft stierte, eilten Marcia und Beetle zu dem Gang mit den sieben Biegungen. Am Eingang blieben sie stehen.

»Die geheime Schublade für Belagerungsfälle öffnet sich, wenn Sie siebenmal auf den kleinen schwarzen Kreis in der Mitte des Tisches klopfen«, erklärte Marcia. »Die Schublade enthält Notverpflegung und den Charm für den Aufhebungszauber mit genauen Anweisungen.«

»Ich weiß«, sagte Beetle.

»Sie sind ein tapferer junger Mann, Beetle. Viel Glück!«

»Danke.«

Marcia fragte sich, ob sie Beetle jemals Wiedersehen würde. »Also dann. Gehen Sie jetzt besser hinein. Sobald Sie in der Kammer sind, setzen Sie sich auf den Stuhl der Obermagieschreiberin. Er steht genau in der Mitte, dort sind Sie gut aufgehoben. Der Versiegelungszauber ist sehr stark und kann unangenehm werden.«

»In Ordnung.«

Marcia rang sich ein Lächeln ab. »Ich zähle bis einundzwanzig, dann aktiviere ich das Siegel. Verstanden?«

»Ja. Ich werde mitzählen. Eins ... zwei...«

Schon war Beetle verschwunden. Er rannte durch den schmalen Steinbogen in den dunklen Gang mit den sieben Biegungen, und noch bevor er bei zehn war, hatte er die kreisrunde Hermetische Kammer erreicht. In dem Gefühl, etwas Verbotenes zu tun, setzte er sich auf den Stuhl der Obermagieschreiberin, zählte weiter und beobachtete den Bogen, durch den er soeben gekommen war. Die folgenden Sekunden wurden die längsten seines Lebens.

Die Aktivierung des Siegels begann. Ein zischendes Geräusch erfüllte die Kammer, und ein kalter Luftstoß fegte herein, als das Siegel in den Gang mit den sieben Biegungen getrieben wurde. Ehrfürchtig sah Beetle zu, wie eine leuchtende Wand lilafarbener Magie in der letzten Biegung auftauchte und unter dem Bogen, der in die Kammer führte, zum Stehen kam. Das helle magische Licht begann zu pulsieren und wurde von den runden weißen Wänden der Hermetischen Kammer verstärkt, die magische Wirbel im Kreis herumsandten, während Beetle genau in der Mitte saß, wo sich kein Lüftchen regte, und kaum zu atmen wagte. Nach ein paar Minuten begann das Licht zu verblassen. Lila Schwaden schwebten in der Luft, und der bittersüße Geschmack von Magie kratzte Beetle im Hals und ließ ihn husten.

Als sich die letzten magischen Kringel auflösten, begriff Beetle, was es bedeutete, in der Kammer versiegelt zu sein. Wo sich eben noch der Bogen befunden hatte, war jetzt eine feste Wand, die von den übrigen Wänden, die ihn umgaben, nicht zu unterscheiden war. Er war lebendig begraben. Über seinem Kopf wölbte sich die Decke als weiße Steinkuppel, und unter seinen Füßen lag die versiegelte Luke zu den Eistunneln.

In Erinnerung an Marcias Worte klopfte er siebenmal auf den kleinen schwarzen Kreis in der Mitte des Tischs. Unter dem Tisch sprang eine kleine Schublade auf. Er fasste hinein, tastete nach dem Charm für den Aufhebungszauber – und zog eine Handvoll Lakritzschnüre heraus.

Septimus Heap 06 - Darke
titlepage.xhtml
Septimus Heap 06 Darke 01_split_000.html
Septimus Heap 06 Darke 01_split_001.html
Septimus Heap 06 Darke 01_split_002.html
Septimus Heap 06 Darke 01_split_003.html
Septimus Heap 06 Darke 01_split_004.html
Septimus Heap 06 Darke 01_split_005.html
Septimus Heap 06 Darke 01_split_006.html
Septimus Heap 06 Darke 01_split_007.html
Septimus Heap 06 Darke 01_split_008.html
Septimus Heap 06 Darke 01_split_009.html
Septimus Heap 06 Darke 01_split_010.html
Septimus Heap 06 Darke 01_split_011.html
Septimus Heap 06 Darke 01_split_012.html
Septimus Heap 06 Darke 01_split_013.html
Septimus Heap 06 Darke 01_split_014.html
Septimus Heap 06 Darke 01_split_015.html
Septimus Heap 06 Darke 01_split_016.html
Septimus Heap 06 Darke 01_split_017.html
Septimus Heap 06 Darke 01_split_018.html
Septimus Heap 06 Darke 01_split_019.html
Septimus Heap 06 Darke 01_split_020.html
Septimus Heap 06 Darke 01_split_021.html
Septimus Heap 06 Darke 01_split_022.html
Septimus Heap 06 Darke 01_split_023.html
Septimus Heap 06 Darke 01_split_024.html
Septimus Heap 06 Darke 01_split_025.html
Septimus Heap 06 Darke 01_split_026.html
Septimus Heap 06 Darke 01_split_027.html
Septimus Heap 06 Darke 01_split_028.html
Septimus Heap 06 Darke 01_split_029.html
Septimus Heap 06 Darke 01_split_030.html
Septimus Heap 06 Darke 01_split_031.html
Septimus Heap 06 Darke 01_split_032.html
Septimus Heap 06 Darke 01_split_033.html
Septimus Heap 06 Darke 01_split_034.html
Septimus Heap 06 Darke 01_split_035.html
Septimus Heap 06 Darke 01_split_036.html
Septimus Heap 06 Darke 01_split_037.html
Septimus Heap 06 Darke 01_split_038.html
Septimus Heap 06 Darke 01_split_039.html
Septimus Heap 06 Darke 01_split_040.html
Septimus Heap 06 Darke 01_split_041.html
Septimus Heap 06 Darke 01_split_042.html
Septimus Heap 06 Darke 01_split_043.html
Septimus Heap 06 Darke 01_split_044.html
Septimus Heap 06 Darke 01_split_045.html
Septimus Heap 06 Darke 01_split_046.html
Septimus Heap 06 Darke 01_split_047.html
Septimus Heap 06 Darke 01_split_048.html
Septimus Heap 06 Darke 01_split_049.html
Septimus Heap 06 Darke 01_split_050.html
Septimus Heap 06 Darke 01_split_051.html
Septimus Heap 06 Darke 01_split_052.html
Septimus Heap 06 Darke 01_split_053.html
Septimus Heap 06 Darke 01_split_054.html